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AVIVA-BERLIN.de im Mai 2024 - Beitrag vom 27.08.2020


Warum wir weibliche* Genies in der Musik brauchen. Bestandsaufnahme und Aufruf zum Crowdfunding von Kerstin Grether
Kerstin Grether

Deutschlands Musikbranche hat immer noch ein Problem mit Musikerinnen. Sie werden ausgegrenzt, ignoriert oder nur eine Saison lang gefeiert. Ein Songbook im mikrotext verlag (herausgegeben von den Pop-Feministinnen Kerstin und Sandra Grether) mit herausragenden....




...Lyrics von 50 Musikerinnen de Gegenwart und Geschichte will den Blick für krass gute Songtexte von Frauen stärken. Mitmachen!

Neue Szene für meine Schwester und mich

Warum wir dringend die Lyrics von weiblichen Genies* kennen sollten


Ich bin nicht widersprüchlich, ich bin einfach nur "Ich", ein Wunderwesen und deswegen einzigartig. FaulenzA
Let´s go underground, where we can´t be found, and forget the world around us. Mariama

Hierzulande ist das Genre des großspurig-prosaischen und poetischen "Großsängers" seit seiner Erfindung durch Udo Lindenberg in den 1970er Jahren fest in Männerhand (von Marius Müller Westernhagen über Element of Crime bis hin zu Sido). Man muss demnach keine leidenschaftliche lebenslängliche songtextbegeisterte Musikliebhaberin und poetische Musikerin sein – wie die Autorin dieser Zeilen –, um ernsthaft die Frage aufzuwerfen, ob Frauen hierzulande besser bezahlt wären, wenn sie auch mal "ihre" Ton Steine Scherben, Ärzte und Tote Hosen gehabt hätten! Haben sie aber nicht! No way ! Niemals! Sie sollen lieber immerzu die Pflege- und Einzelhandelsberufe anstreben. Sie sollen sich lieber mit der ihnen drohenden Altersarmut auseinandersetzen. Oder bleiben wir in der Gegenwart:
Laut einer Studie des Familienministeriums haben nur zehn Prozent aller 30- bis 50-jährigen Frauen netto mehr als 2000 Euro monatlich zur Verfügung, bei den Männern sind es hingegen 42 Prozent.

In den letzten Jahren ist viel darüber spekuliert worden, warum auf die Pop-Festivals aller musikalischen Spielarten zum Großteil männliche Acts gebucht werden. Nun, darauf gibt es bekanntermaßen viele Antworten. Die eine lautet, dass Männer, die meist über das Booking entscheiden, sich eben lieber mit männlichen Künstlern identifizieren, um genau ihr eigenes Selbstbewusstsein auf Rock-Festivals abgebildet zu sehen. Während Frauen sich mit allen Geschlechtern wohlfühlen. Die andere Antwort ist dem Statement der Rapperin Nura, vormals auch bekannt als SXTN zusammen mit Juju, enthalten, das sie neulich auf bento machte: "Es sind viel mehr Frauen, jetzt auf einmal. Überall! Jetzt müssen auch Festivals nicht mehr rumheulen von wegen es gebe keine Frauen. Shut the fuck up man, es gibt genug Frauen. Ihr braucht jetzt nicht wieder 80 Prozent Männer zu booken. Wenn ihr das jetzt noch macht, dann wissen alle, dass es Sexismus ist."

Warum wird ihnen aber so selten zugehört? Warum sind sie noch so unbekannt verglichen mit ihren männlichen Kollegen?
Ich versuche mich an einer Herleitung dieser so offensichtlichen Ignoranz:

Die Entscheider*innen für Festivals, Radio-Rotationen, Features in (Musik-)Magazinen sind ja eigentlich auch der Meinung, dass zu wenig hiesige female* Acts auf Bühnen und im Radio eigentlich ein bedauernswerter Zustand sind, der beendet werden muss, aber mit Blick auf die Uhr und inneren Realismus, wollen sie natürlich keinesfalls darauf verzichten, jeden Aspekt jeder einzelnen neuen Platte von Trettmann, Von Wegen Lisbeth, Apache 207, Thees Uhlmann oder Zugezogen Maskulin zu besprechen. Man muss sich die Begeisterung wirklich mal kurz geben, mit der die hiesige Presse regelmäßig männliche Musiker abfeiert, ohne dass sowas jemals eine Polarisierung hervorgerufen hätte, wie das bei Frauen regelmäßig passiert, wenn auch nur EINE mal gehypt wird. Eine absichtliche Schnellrecherche im Netz spukt folgende Superlative hervor: "Mit diesem Album hat er einen Meilenstein geschaffen." (Musik Express über Trettmann). "Auf diese Band hat die deutsche Popmusik lange gewartet" (STERN über Von Wegen Lisbeth). Die ZEIT über Apache 207 "Kein schönes Lied, aber auch keins, das irgendjemand sonst bringen könnte." Auch ein Schnelltest bei Insidermedien würde nicht anders ausfallen.

Man könnte es auch so formulieren: female* Bands werden nicht unbedingt zurückgedrängt, männliche Acts gehen im Alltagsbetrieb des Musikgeschäfts nur einfach immer vor, weil sie, so die einhellige Meinung der Musikexperten bei den Musikvertrieben, Booking-Agenturen, Radio-Stationen, Plattenfirmen, "so krass gut sind", weil sie "so unverzichtbare Songtexte" schreiben, ja, "das geniale Ding lanciert haben, was jetzt gerade nötig ist. Und wenn dann noch irgendein Journalist schreibt, Band XY habe Slogans geschaffen, die fürs Feuilleton und/oder für die Straße taugen, dann ist die Band endgültig auf dem universalistischen Poeten-Olymp angelangt. Während die Pop-Poetin vielleicht gerade nicht genug weibliche Stereotype abgeliefert hat, um ins Weltbild des Bookers zu passen. "Zu viel Mann für ne Frau. Zu viel Frau für nen Mann" singen z.B. Chefboss in ihrem Song Frida Kahlo.

Und da dieses Spiel nun schon so viele Jahre mit so vielen Bands gespielt wird, dürfen männliche Acts Werke anhäufen und werden auch im siebten Album noch gehört. Währenddessen Musikerinnen* gerne ausgetauscht werden, wenn sie keine Newcomer mehr sind. Dadurch entfällt die Dringlichkeit auf der Genie-Stufe.

Es geht also bei diesem Kampf nicht nur um die Musikerinnen selber, sondern auch darum, dass Frauen langfristig um Repräsentationsfiguren gebracht werden, wenn Musikerinnen immer nur einen oder zwei Sommer lang singen dürfen.

Die Autorin dieser Zeilen ist durchaus auch Fan von manchen der männlichen Acts, die sie hier aufgezählt hat, und möchte auch gar nichts von deren Werk missen, aber um es mal mit der fantastischen Jungsband Superpunk und ihrem Song "Neue Zähne für mich und meinen Bruder" zu sagen: "Ich habe nichts gegen die Reichen, ich möchte ihnen nur ein bisschen gleichen." Oder, weniger devot gesagt, wir, die Musikerinnen in diesem Land, müssen ja schon doppelt so gut sein wie die männlichen, schon allein, weil wir diesen ganzen großartigen Text- und Musikwahn abziehen, ohne die Sicherheit einer sofortigen flächendeckende Bejubelung jeder einzelnen Songzeile und entsprechend Kohle auf dem Konto zu haben.

Wobei: Ich selber bin gar nicht so unumschwärmt, was meine lyrischen Qualitäten betrifft. Ich habe Romane bei Suhrkamp und im Ventil Verlag veröffentlicht, die Longseller wurden, und keiner hat je ernsthaft an meinen Fähigkeiten als Autorin gezweifelt. Leuten wie mir zahlt man´s heim, indem man behauptet, ich könnte nicht gut genug singen! Natürlich macht man Leute wie mich dadurch nur zu noch besseren Sängerinnen. Mittlerweile habe ich sogar meine eigene Gesangsschule gegründet und bilde selber Sängerinnen aus …

Aber meine ganze Credibilty, etwa auch als Erfinderin des Pop-Feminismus in Deutschland, hat mich natürlich auch nicht davor bewahrt, sexistische Erfahrungen mit z.B. Musikverlagen und Promotern zu machen. Gerade wenn sie vom eigenen Talent überzeugt sind, so möge man sich doch bitte im Bikini in den Pool setzen, fürs Video. Von meiner Schwester war mal ein Promoter "sehr enttäuscht", weil sie im Video zu unserem Doctorella-Song "Liebe Stadt" Gitarre spielte. Statt den Busen zu zeigen. Was für ein Pech aber auch, dass diese E-Gitarren den Oberkörper einer Frau verdecken. Für eine Promo-Agentur kann sowas schon ein Grund sein, die Band nicht mehr weiter zu pushen. Auch wenn es da gerade um ein Album geht, das die Qualität eines Albums von Blumfeld hat. Und auch, wenn sie dafür bezahlt wurden.

All diese Vorkommnisse sind natürlich Grund genug, die weiblichen* Genies zu feiern, zu entdecken, zu brauchen! Und sich auch ein wenig darüber zu wundern, wo sie eigentlich noch die Energie und die Ressourcen für all den lyrischen und musikalischen Budenzauber hernehmen.

Die Musikerin, Popjournalistin und Roman-Autorin Kerstin Grether gibt gemeinsam mit ihrer Schwester Sandra Grether das Songbook Ich brauche eine Genie heraus, das nur noch ein paar Tage im Crowdfunding vorbestellt und unterstützt werden kann.

Weitere Infos zum Songbook:

Das Songbook enthält Lyrics von fast 50 hiesigen Musikerinnen*, sowie viele exklusive Illustrationen .Neben vielen aktuellen Acts, die auch bei der Veranstaltungsreihe "Ich Brauche Eine Genie" in der Kantine am Berghain gespielt haben, welche die Grether-Schwestern organisieren – Shirley Holmes, Safi, Die Supererbin, Lena Stoehrfaktor, Kitty Solaris, um jetzt mal nur die zu nennen, die mit "S" anfangen – wird auch auf Klassikerinnen und Avantgarde-Vorreiterinnen das Augenmerk gelegt: Carambolage, Hansa-A-Plast, Mona Mur, Malaria und Lassie Singers, Die Braut Haut ins Auge, Parole Trixi… Soll keine*r sagen, es hätte seit Punk je eine Dekade gegeben, in der deutschsprachige Musikerinnen nicht genauso krass gute Lieder geschrieben hätten wie die Typen.

Crowdfunding!

Wer also etwas hören will, was er oder sie noch nie zuvor gehört hat, etwas Innovatives und Visionäres, sollte unser Crowdfunding unterstützen und vorab ein Buch kaufen, oder tolle Dankeschöns erwerben.
Eventuell machen sie die derzeit beste und aufregendste Musik im Land, weil sie etwas zu sagen und um etwas zu kämpfen haben. Und weil sie oft unter so schlechten Bedingungen arbeiten mussten, dass sie ihr Songwriting und ihre Skills beinahe zwangsläufig immer weiterentwickelt haben.

AVIVA sagt, macht mit beim Crowdfunding, auch wenn es echt kurzfristig ist! Aber auch nach der Aktion brauchen die Frauen euren und unseren Support!

www.startnext.com/ich-brauche-eine-genie-buch

Mehr zu Kerstin Grether unter:
www.kerstin-grether.de

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Interview mit Kerstin Grether - An einem Tag für rote Schuhe
Sie hat nicht nur den Pop-Feminismus für Deutschland erfunden, sondern ihn auch gleich noch in ihrem Debüt "Zuckerbabys" sowie in der Musikgeschichten-Sammlung "Zungenkuss" (Suhrkamp 2007) veredelt. (2014)

Du nennst es Kosmetik, ich nenn es Rock´n´Roll
Kerstin Grether schrieb bereits mit 15 Jahren für ihr eigenes Fanzine über Rock, Pop und die Abwesenheit der Frauen in der Musikgeschichte. In "Zungenkuß" sind Texte aus 15 Jahren versammelt. (2007)

Juliane Streich - These Girls. Ein Streifzug durch die feministische Musikgeschichte. Mit Illustrationen von Judit Vetter
Die "Lo-Fi-Bohemienne" Juliane Streich hat als Herausgeberin fast 140 Portraits von Musikerinnen zusammengetragen, die in den letzten Jahrzehnten Musikgeschichte geschrieben haben. Das ist mehr als nur ein Streifzug durch die feministische Musikgeschichte, denn es bietet sich als Vorlage für die Leser*in an, um die eigene (musikalische) Biographie vor dem inneren Auge abzuspulen. (2020)

Almut Klotz – Fotzenfenderschweine
Mit der Band "Lassie Singers" feierte Almut Klotz das Anti-Pärchen-Ideal. Einige Jahre später bildete sie selbst eines, mit dem wetternden Musiker Reverend. Davon erzählt nun ihr letztes Romanfragment. (2016)


Credit: Grafik/Artwork: Nikola Richter


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Beitrag vom 27.08.2020

AVIVA-Redaktion